oder: Lehr- und Wanderjahre eines Coachs
… Denn die Wahrheit von heute ist der Irrtum von Morgen. …
Friedrich Wilhelm Nietzsche
von Bernhard Juchniewicz, Angelica Ulkan, Frank Niessing,
Vorwort
Jedes Coaching richtet sich ausschließlich an gesunde Menschen, die zu einer selbstverantwortlichen Lebensgestaltung in der Lage sind, die sich Veränderung wünschen und im Rahmen ihrer Anliegen die Unterstützung eines Coachs in Anspruch nehmen möchten. Es handelt sich hierbei um keine Heilbehandlung im schulmedizinischen Sinne und kann eine solche auch nicht ersetzen.
Klientenzentriertes Coaching im Verständnis der European Coaching Association ECA ist eine lösungs- und zielorientierte Beratung und Begleitung auf Zeit in einer professionellen Beziehung auf Augenhöhe zur Identifikation von Zukunftspotentialen.
Auf der Basis der individuellen Fähigkeiten und Ressourcen des Klienten werden unter Wahrung von Vertraulichkeit und Diskretion realistische Ziele im professionellen und/oder privaten Umfeld vereinbart.
Veränderungsprozesse verlangen die selbstkritische Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und Einstellungen und in diesem Zusammenhang die Aufarbeitung und Überwindung individueller Arbeits- und Lebenskonflikte, daraus resultierender Kommunikationsprobleme, Ambivalenzen im Denken und Verhalten sowie Störungen in Emotion und Reaktion.
Die vom Klienten angestrebte Neuorientierung kann eine vollständige Neuausrichtung im beruflichen und/oder privaten Bereich oder in Teilen davon initiieren. Falls erforderlich, kann auf Wunsch des Klienten sowohl das berufliche wie auch das private Umfeld in den Coaching-Prozess miteinbezogen werden.
Den grundsätzlichen Annahmen eines humanistisch geprägten Welt- und Menschenbildes verbunden praktizieren wir mit dem Einsatz unserer multidisziplinären Teams eine ganzheitlich ausgerichtete Integration höchst unterschiedlicher Erfahrungs- und Bildungshintergründe mit dem Ziel, Unternehmen innovative Lösungsansätze und praktikable Konzepte für die Herausforderungen einer global ausgerichteten Arbeitswelt zur Verfügung zu stellen.
Einleitung
Wer ist der Mensch, was ist seine Bestimmung, der Sinn seines Daseins?
Und: Wie könnte seine Biographie – seine Weiter-Entwicklung – seine Arbeit – sein gesamtes Leben verlaufen?
Wer immer als professioneller Coach, als Begleiter auf Zeit, erfolgreich mit Menschen in Unternehmen oder mit Privatpersonen arbeiten will, sollte sich diese grundlegenden philosophischen Fragen ganz bewusst stellen.
Denn: Unser eigenes Welt- und Menschenbild bestimmt maßgeblich unser Verhalten anderen Menschen gegenüber – wie wir ihnen begegnen und was wir in ihnen sehen oder sehen wollen, selbst dann, wenn wir uns noch nie bewusst darüber Gedanken gemacht haben. Wie wir selbst auf andere Menschen wirken, merken wir oft gar nicht, denn häufig stimmen Selbst- und Fremdbild nicht überein.
Als Coachs tragen wir unseren Klienten gegenüber die besondere Verantwortung, sie mit unserem Wissen und unserer ganzen Erfahrung kraftvoll in der Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu unterstützen und damit die Lust zu wecken an einer eigenverantwortlichen Lebensgestaltung sowie die Einsicht, dass Lebenserfüllung oftmals durch individuelle Einschränkungen verhindert wird, die es aufzulösen gilt, bevor Leben in seiner ganzen Fülle möglich wird.
Wie also könnte ein Menschenbild aussehen, auf dessen Grundlage sich unsere Arbeit wirkungsvoll entfalten kann? Welche Annahmen des Coachs unterstützen seine Klienten in der Persönlichkeits-Entwicklung?
Wir alle wissen, dass Gedanken zu dieser Thematik im nächsten Augenblick schon wieder in Frage gestellt werden können. Klar ist nur, dass wir als Coachs die Umstände und Bedingungen des Menschseins nicht nur in einer besonderen Tiefe verstehen sollten, sondern lebenslang unsere Überzeugungen und damit unser eigenes Menschenbild anpassen müssen an den Lernprozess, den wir auf unserem Lebensweg und insbesondere in der Arbeit mit unseren Klienten durchlaufen.
Im Rahmen dieses Artikels kommen Menschenbilder zur Sprache, die einen nachhaltigen Einfluss auf die unendliche Historie unserer Vorstellungen hatten und bis heute noch haben. Beobachtungen hierzu geben das wider, was aus unserer Wahrnehmung heraus für uns verständlich und nachvollziehbar ist – sie erheben jedoch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, Richtigkeit und Allgemeingültigkeit.
A. „Gut“ und „Böse“ in Philosophie und Pädagogik
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Der „edle Wilde“ – Menschenbild bei Rousseau
Jean-Jacques Rousseau – französischer Philosoph, Schriftsteller und neben Voltaire einer der bedeutendsten Vordenker der französischen Revolution (1789 – 1799) – stellt in seinem gesellschaftskritischen „Zweiten Discours“ fest:
«Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis. Jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube, es nachgewiesen zu haben; » […..]
Und weiter:
«Man bewundere die menschliche Gesellschaft soviel man will; es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendigerweise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen wie ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen, doch in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen.»
Vergesellschaftung also als Wurzel des „Bösen“ im Menschen?
Laut Rousseauschem Menschenbild kann das Individuum nur außerhalb einer Gesellschaft „gut und vollkommen“ sein, also in einem einfachen „Naturzustand“, wo sein Haupttrieb die natürliche Selbstliebe ist:
«Sorge für Dein Wohl mit dem geringst möglichen Schaden für die anderen».
Sobald das Individuum innerhalb der üblichen gesellschaftlichen Normen aufwächst und erzogen wird, fängt es an, sich mit Anderen zu vergleichen, so Rousseau – aus der natürlichen Selbstliebe entsteht die gierige, selbstsüchtige Liebe zum Eigentum, Konkurrenzdenken und als Folge davon selbst- und gesellschaftsschädigendes Verhalten und Handeln.
Rousseau verlangt keine Rückkehr in den „Naturzustand“, weg von jeder Gesellschaftsform – dies wäre nicht nur utopisch, Rousseau selbst zweifelt daran, ob es diesen in seinen Augen „idealen“ Zustand überhaupt jemals gab.
Kern seines Menschenbildes ist der Widerspruch gegen die Annahme von Aristoteles, wo die Vernunft über dem Willen steht. Rousseau hingegen sieht den Menschen als willensgesteuertes Individuum, das alle Fähigkeiten zur Selbstverwirklichung in sich trägt sowie «eine angeborene Liebe zum Guten», einen „vorbewussten“ Instinkt.
Diesen „vorbewussten Instinkt“ gilt es zu entwickeln im Rahmen der Jugenderziehung, wo die Heranbildung der sozialen Instinkte und damit der Tugend oberste Priorität hat, vgl. „Emile oder Über die Erziehung“ – nur dann sei der Mensch in der Lage, „gut“ zu sein, d.h. im Sinne des Gemeinwohls zu handeln, erklärt Rousseau.
Kritik am Menschenbild Rousseaus
Folgt man der Rousseauschen Ordnung und seinem Menschenbild, dann findet man sich wieder in einer patriotisch geprägten Staatsgesellschaft, in welcher die als „tugendhaft“ anerkannten Mitglieder einen am Gemeinwohl orientierten Kollektivwillen erzeugen. Dieser gilt absolut, auch wenn Andere oder gar die Mehrheit dagegen ist.
Robespierre, einflussreicher Politiker während der französischen Revolution und glühender Anhänger Rousseaus, verwirklichte dessen Thesen auf dem politischen Parkett in Form des sogenannten „Gesellschaftsvertrags“. Terror war ein probates Mittel, um Maßnahmen durchzusetzen, die dem „Wohle des Ganzen“ dienen sollten: «Ohne Tugend sei Terror verhängnisvoll, ohne Terror die Tugend machtlos» , war Robespierres Auffassung. Politische Gegner hatten demnach nur die Wahl zwischen einer Änderung ihrer Ansicht oder der Guillotine.
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„Enlightening the diamond“ – Menschenbild im tibetischen Buddhismus
Im tibetischen Buddhismus wird der Mensch verglichen mit einem vollkommenen Diamanten, der alle Möglichkeiten zu einem absolut erfüllten Leben in sich trägt. Dieser Diamant symbolisiert die Erleuchtung, dem voll entwickelten Zustand des Geistes, in dem dieser sich seiner eigentlichen zeitlosen und unvergänglichen Natur bewusst geworden ist. In diesem Zustand sollen wir das Kommen und Gehen aller Erscheinungen liebevoll erleben können, ohne uns von irgendetwas abhängig zu fühlen oder es festhalten zu wollen – frei von jeglicher Angst, freudvoll und gegenwärtig im Hier und Jetzt umfassender Liebe und Verbundenheit mit allen und allem.
Dass die meisten Menschen diesen Geisteszustand jedoch nicht oder zumindest nur sehr selten und kurzfristig erleben können, liegt laut buddhistischer Lehre nicht daran, dass dieser Diamant in sich unrein wäre, sondern vielmehr daran, dass er, von „Ablagerungen“ umgeben, nicht so durchlässig ist, wie es seiner reiner Natur entspricht.
Nach der buddhistischen Lehre symbolisieren diese „Ablagerungen“ auf der Bedeutungsebene unsere Glaubenssätze, Interpretationen und Vorannahmen, die sich im Laufe des Lebens tief in unser Unbewusstes eingebrannt haben. Demnach verdecken sie uns die Sicht auf unsere eigentliche unbegrenzte Natur und suggerieren uns, wir seien nur das, was uns bewusst ist.
Solange wir den ausbalancierten Zustand der Erleuchtung, der vollständigen Erkenntnis nicht erreicht haben – so sagt die Lehre – fallen wir immer wieder in alte Erlebensmuster von Abhängigkeit, Anhaftung, Angst und Verwirrung zurück, die unser Verhalten im Umgang mit uns selbst und anderen tiefgreifend beeinflussen. Die entscheidende Aussage dieses Menschenbildes ist: «Menschen sind in ihrem innersten Wesen vollkommen, heil und heilig, fertig, frei und mit allen und allem verbunden».
Kritik am Menschenbild im tibetischen Buddhismus
Das Bild im tibetischen Buddhismus, der Mensch gleiche einem „vollkommenen Diamanten“ und müsse nur von äußeren Ablagerungen befreit werden, um strahlend und rein in seiner wahren Natur zu leuchten, ist wohl wunderschön. Erhebt es aber nicht auch die menschliche Vollkommenheit zum absoluten Wert?
Die Natur liebt das Unvollkommene, die Asymmetrie. Sie selbst bringt nur ganz wenige lupenreine, also vollkommene Diamanten hervor. Ungleich mehr weisen Einschlüsse auf in unterschiedlichster Form. Ihre Unvollkommenheit mindert ihren Wert – als Steine.
Bleiben wir im Bild: Menschen können Kiesel sein, Schmucksteine oder geschliffene Brillanten. Der Wert eines Steins ist ein Wert an sich und erschließt sich nicht im Vergleich zu einem anderen Stein. Vollkommenheit liegt in der Natur jeder Erscheinung oder Form. Der Diamant ist als Metapher für Vollkommenheit zu verstehen und aus dieser Perspektive kann der Kiesel , wie jeder andere Stein auch, zum Diamanten werden sobald sich sein eigenes Sein durch ihn ausdrückt. Der Weg dahin geht durch die Unvollkommenheit, die ihre eigene Schönheit hat und den nötigen Antrieb zur Veränderung sicher stellt.
So verschieden wie die unterschiedlichen Aufgaben in der Gemeinschaft einer Gesellschaft sind auch die Menschen. Und in jeder Aufgabe steckt die Möglichkeit, sie mit Leidenschaft und Erfüllung zu meistern, in ihr die eigene Verwirklichung zu finden, wenn diese Aufgabe zu dem Menschen passt, der sie ausführt. Zu finden, bei welchen Aufgaben sich die eigenen Talente entfalten können und dazu beitragen, das volle Potential zu berühren, das wäre die Kunst dem Leben eine diamantene Schwingung zu verleihen (und der Erleuchtung ein Schnippchen zu schlagen). Es ist nicht wichtig, wichtig zu sein. Es ist wichtig zu wissen was dabei unterstützt, sein volles Potential zu leben.
Der Kreis der „Kandidaten“, die laut buddhistischer Lehre zur Erleuchtung, zur vollständigen Erkenntnis gelangen könnten und in den Genuss ihrer Segnungen, ist naturgemäß von vornherein sehr begrenzt. Die Frage also ist, ob „Erleuchtung“ überhaupt Vollkommenheit voraussetzen kann und darf. Sicher nicht, solange „anerkannt Erleuchteten“ ein Übermaß an Bewunderung und damit Macht über andere zugebilligt wird und Suchende der Sucht nach eben dieser Erleuchtung verfallen.
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Der aufgeklärte Mensch – Menschenbild im Humanismus
Die Anfänge des Humanismus liegen rund 2500 Jahre zurück bei den griechischen Philosophen Heraklit und Protagoras. Ihnen werden die drei Kernaussagen des humanistischen Menschenbildes zugeschrieben:
- «panta rhei – alles fließt», womit die natürlichen Gesetzmäßigkeiten des steten Wandels gemeint sind;
- «Aus allem eins und aus Einem Alles», was bedeutet, der Mensch solle sich als Teil eines großen Ganzen begreifen;
- «Der Mensch ist das Maß aller Dinge» – der Mensch wirke schöpferisch und sei damit als höchste Autorität im Universum anzusehen.
Im Verlauf seiner Weiterentwicklung findet die Interpretation des humanistischen Menschenbildes – bis ins 19. Jahrhundert hinein als Humanität bezeichnet – in der Zeit der Weimarer Klassik (Deutsche Hochklassik 1786 – 1805) einen ihrer Höhepunkte.
Unter den damals bedeutenden Denkern gelten fortan die Leitgedanken der Ästhetik in Kunst und Kultur als Ideal. Das Erziehungsmodell dieser Zeit propagiert die Einigkeit von Verstand, Emotion und Intuition in uneingeschränkter Verantwortung für sich selbst, den Mitmenschen und die Natur im Sinne einer universellen Ganzheitlichkeit – hin zu allem, was gut, schön und wahr ist. Der Mensch als Zentrum aller Dinge führe sein Leben selbstbestimmt und entfalte sich nach seinen persönlichen Anlagen und Ressourcen als nutzbringender Teil des gesamten Universums, so der intellektuelle Zeitgeist.
Das Menschenbild im Neu-Humanismus verkörpert eine unmissverständliche Absage an die bis dahin unangefochtene Herrschaft von Kirche und Adel. Die innere Zerrissenheit seiner großen Dichter und Denker auf der verzweifelten Suche nach Erkenntnis wird offenbar in literarischen Meisterwerken wie Goethes Faust – geschrieben und vollendet in den Jahren 1775 bis 1832 -, in welchem die erfolglose Hinterfragung des Lebenssinns zur Machtprobe zwischen „Gut“ und „Böse“ gerät, denn:
«Mit heißem Bemühen» – in der Hoffnung auf Antwort – bildet sich Faust – und kommt dabei zur Überzeugung, «dass wir nichts wissen können» (Faust I, 364), eine fatale Erkenntnis, die letztlich zum Teufelspakt führt.
Die Antwort nach Jean-Paul Sartre im anschließenden Humanismus der Moderne beschreibt den Menschen als Entwurf und Vorbild seiner Selbst, als die Summe seiner Taten und Beziehungen. Der Mensch sei sein Leben und erfinde sich selbst in totaler Freiheit.
Kritik am humanistischen Menschenbild
Der Humanismus stellt den Menschen ins Zentrum aller Betrachtungen und steht damit in krassem Gegensatz zum reinen Nützlichkeitsdenken eines Darwin.
Die Frage nach der Berechtigung einer solchen Annahme wurde vielerorts gestellt, so auch von Martin Heidegger in seinem „Brief über den Humanismus“. Wir denken, dass jeder mit Philosophie Befasste im Laufe seiner eigenen Entwicklung sich mit dieser Frage konfrontiert sieht:
„Darf sich der Mensch denn überhaupt als höchsten Wertbegriff der Schöpfung erklären, als Maß aller Dinge“?
- Im Ringen um Wahrhaftigkeit
….. gibt es so viele Antworten – die Eine, letzte Klarheit gebende, steht aus, sieht man einmal davon ab, dass die Anhänger von Ideologien naturgemäß von deren Wahrhaftigkeit überzeugt sind.
Könnte die Eine, hätte man sie denn je gefunden und – befänden sie „alle“ für richtig – die Frage des Menschen nach seiner Bestimmung, das „Rätsel des Lebens“, wirklich lösen, und dies ohne letzten Zweifel?
Würde ein Finden nicht die Suche beenden und damit ein Gesetz außer Kraft setzen, das der Motor ist für eine fortlaufende Weiterentwicklung?
Vielleicht ist es das Bedeutsamste überhaupt, dass jede Epoche, jede Kultur die Chance hat, neue Antworten hervorzubringen. Das passiert aber nur, solange Suchende sich überhaupt noch herausgefordert fühlen, weiterzusuchen.
Vielleicht aber müssen wir einfach auch nur begreifen, dass es eine letzte Antwort gar nicht geben kann:
«Am Meer, am wüsten, nächtlichen Meer
Steht ein Jüngling-Mann,
Die Brust voll Wehmut, das Haupt voll Zweifel,
Und mit düstern Lippen fragt er die Wogen:
„Oh löst mir das Rätsel des Lebens,
Das qualvoll uralte Rätsel,
Worüber schon mache Häupter gegrübelt,
Häupter in Hieroglyphenmützen,
Häupter in Turban und schwarzem Barett,
Perückenhäupter und tausend andre
Arme, schwitzende Menschenhäupter –
Sagt mir, was bedeutet der Mensch?
Woher ist er kommen…? Wo geht er hin…?
Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen…?
Es murmeln die Wogen ihr ewges Gemurmel,
Es wehet der Wind, es fliehen die Wolken,
Es blinken die Sterne, gleichgültig und kalt,
Und ein Narr wartet auf Antwort.»
Heinrich Heine
Zweifelsohne hat jede Sichtweise ihre eigene Wahrheit – vielleicht als Teil einer allumfassenden Antwort , die doch immer nur hypothetisch sein könnte, stünde der Beweis aus. „Nur-Gut“ oder „Nur-Schlecht“ als Bewertung irgendeiner Annahme würde wohl von der maßlosen Selbstüberschätzung derer zeugen, die eine derartige Behauptung aufstellten.
Über den Erfolg unserer Arbeit als Coachs entscheidet letztlich immer die „Erlaubnis“ unseres Klienten, „sein Inneres“ berühren zu dürfen – er allein gibt uns den Schlüssel – oder auch nicht. Was uns bleibt ist das stetige Bemühen, uns selbst mit der Zeit besser kennen- und verstehen zu lernen- und damit unsere Klienten.
Unter der Fülle von Sichtweisen, die sich in unserem Innern bilden, sich verändern oder gar verworfen werden, um mit zunehmender Erfahrung zu einer stimmigen – wenn auch nie endgültigen – Version unseres eigenen Menschbildes zu reifen, finden sich Annahmen, die Klienten bei der Selbstreflexion und Erkenntnis ihres persönlichen Weges unterstützen, damit Leben selbstbestimmter wird.
Dies vorangestellt stellen wir uns in den folgenden Abschnitten der Frage, weshalb ein Mensch so handelt wie er handelt – ein Thema, das in seiner Umfänglichkeit im Rahmen eines Artikels nur gestreift werden kann und das dennoch im Zusammenhang mit der Diskussion um ein Menschenbild im Coaching behandelt werden sollte, insbesondere zur Verdeutlichung bestimmter Verhaltensmechanismen, ihrer Auflösung, der zugrundeliegenden Befähigung zur Auflösung und damit der Schlüsselkompetenz eines Coachs.
C. Das Unbewusste
Mittlerweile gehört die aus der Psychologie stammende Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Anteilen im menschlichen Verhalten und Erleben fast schon zum Allgemeinwissen.
Dagegen ist kaum bekannt, dass der Anteil dessen, was wir bewusst von uns selbst und von der „Wirklichkeit“ um uns herum wahrnehmen, verschwindend gering ist – nämlich weniger als 3 %. Demzufolge ist unser Bild der „Wirklichkeit“ und auch unser Selbstbild ein von unserem Verstand entwickeltes Konstrukt auf der Basis eines winzigen Wahrnehmungsausschnittes – gut 97 % dessen, was uns bestimmt und handeln lässt, liegt dagegen im Unbewussten.
Damit erklärt sich, warum es uns zumeist nicht gelingt, unliebsame, einschränkende und sogar krankmachende Verhaltensmuster trotz besseren Wissens und Wollens auch nach vielen Jahren und ernst gemeinten Anläufen abzulegen oder wirksam zu verändern. Vielmehr laufen wir wieder und wieder sehenden Auges in die gleichen Sackgassen.
Coaching beginnt also mit der Arbeit an den für unser Bewusstsein im Dunkeln liegenden Strukturen – im Unbewussten, am Verdrängten, an Persönlichkeitsanteilen, die aufgrund prägender, unbewältigter Enttäuschungen dominieren können und ein kongruentes Denken, Fühlen und Handeln von vornherein ausschließen. Sie lassen Menschen alleine im Labyrinth ihrer „selbstkonstruierten Wirklichkeiten“.
Die im nachfolgenden Entwicklungsprozess enthaltenen Annahmen und Aussagen sind als beispielhaft und grob skizziert zu verstehen:
- Im Laufe unserer Sozialisation machen wir unterschiedlichste Erfahrungen. Aus diesen Erfahrungen „lernen“ wir, dass bestimmte Verhaltensweisen nützlicher sind als andere und entwickeln durch die Wiederholung dessen, was funktioniert und uns „schützt“, unsere grundlegenden Verhaltensmuster.Großen Einfluss auf diese Muster haben persönlichkeitsprägende Enttäuschungen, die wir dadurch zu bewältigen versuchen, indem wir beginnen – als Beispiel -, uns in übertriebener, genau konträrer Weise zu verhalten wie es die Bezugsperson getan hat, welche uns die Enttäuschung zufügte. Man spricht in diesem Zusammenhang von unbewussten Versuchen, den sogenannten „Grundkonflikt“ zu kompensieren.Dies ist z.B. auch der Fall, wenn typische Verhaltensmuster auf ständige Bewunderung und Anerkennung ausgerichtet sind. Alle Verhaltensmuster, die aus einem Grundkonflikt heraus entstehen, wirken selbstschädigend.
- Im Laufe der weiteren Sozialisation wird unser Selbstbild durch zahlreiche bestätigende Erfahrungen weiter „gefestigt“. Unser Verhaltensspektrum reduzieren wir unbewusst solange immer weiter auf die Muster, die wir einmal als „gut“ oder „richtig“ abgespeichert haben, bis wir bestimmte Optionen selbst in Kontexten, wo sie hilfreich wären, nicht mehr nutzen können.Schulleben, Berufswahl und -ausübung , aber auch unser Privatleben wird unbewusst so gestaltet, dass sich immer wieder Gelegenheiten für die „Kompensierung unseres Grundkonflikts“ bieten – selbstschädigende Verhaltensmuster gewinnen eine Eigendynamik ohne dass uns dies bewusst wäre.
- Die Manifestierung bestimmter Glaubenssätze führt schließlich zu erheblichen Einschränkungen des persönlichen Handlungsspielraums bis hin zu Verhaltensmustern von großer Tragweite, da einmal etablierte Grundüberzeugungen unser Verhalten subtil steuern, ohne dass wir die ihnen zugrunde liegenden Mechanismen wahrnähmen oder hinterfragten.
Ein Beispiel dafür ist der Lehrer, der seine Schüler als „Familienersatz“ wahrnimmt, sie „bemuttert“ aus dem eigenen unbefriedigten Wunsch heraus, selbst versorgt zu werden, ihre Entwicklung dadurch eher hemmt als fördert und sich deshalb plötzlich aggressiven Ausbrüchen und Ablehnung gegenübersieht. Im Gefühl des verkannt Werdens läuft er Gefahr, eine Burnout-Krise zu entwickeln.
Oder der Manager, der sich als Kind nie wirklich wichtig genommen fühlte und dieses Erleben durch Omnipotenz-Phantasien zu kompensieren versucht. Als Folge verliert er die Fähigkeit, seine Arbeit richtig einzuschätzen – sie wird überbewertet, die Arbeit anderer abgewertet. Seine Sucht nach Anerkennung lässt ihn nichts mehr fürchten als Gesichtsverlust. Reale Begrenzungen können der „Star-Show“ solcher Menschen ein plötzliches Ende setzen und als Konsequenz direkt in eine Burnout-Krise führen.
Entscheidend ist in diesem Zusammenhang vor allem der Aspekt der subtilen Wirksamkeit dieser Mechanismen. Sie werden spürbar, wenn wir uns bewusst Ziele setzen und uns dann auf eine nicht mehr nachvollziehbare Weise – scheinbar ohne Grund – selbst daran hindern, unsere Intentionen erfolgreich in die Tat umzusetzen oder aber, wenn unsere Sichtweisen uns in eine Endlosschleife aus Gewohnheit, Frustration, Verdrängung und Angst zwängen.
D. Von der Kunst des Coachings
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Veränderte Blickwinkel
Coaching lenkt die Aufmerksamkeit des Klienten auf seine Ressourcen, auf das Machbare, weg von einer Fixierung auf angeblich oder tatsächlich vorhandene Defizite.
Primäres Ziel ist es, den Klienten auf der Grundlage eines ebenbürtigen Vertrauensverhältnisses anzuregen, seine Wahrnehmungen, Bewertungen, Handlungs- und Verhaltensmuster offen und frei zu hinterfragen und in diesem Rahmen die persönlichkeitsprägenden Glaubenssätze, ihn in seiner Lösungsfähigkeit zu stärken und damit ein Klima zu schaffen, in welchem der Wunsch nach Veränderung aus eigener Erkenntnis und Einsicht entstehen kann.
Gefühle scheinbarer Ausweglosigkeit weichen greifbaren Möglichkeiten und damit einem veränderten Selbstverständnis und Lebensgefühl, das im beruflichen wie privaten Umfeld Verhaltens- und Handlungsoptionen erlaubt, die vorher nicht denkbar gewesen wären.
Schon im Höhlengleichnis Platons wird die Einnahme veränderter Blickwinkel zur Erlangung von Erkenntnis beschrieben, ganz so, als hätte es schon um 370 v. Chr. „Coachs“ gegeben:
Im Gleichnis finden wir Menschen in einer Höhle vor, die – gefesselt an Hals und Beinen – auf die immer gleiche Wand schauen müssen. Fern hinter ihnen brennt ein Feuer, vor welchem andere Menschen Kunststückchen aufführen, allerlei Kurzweil veranstalten wie Aktionskünstler in einem Theater.
Die Gefangenen, die sich ja nicht umdrehen können, sehen auf der Wand vor ihnen nur scherenschnittgleiche Schatten und – sich selbst, auch als Schatten. Sie halten das, was sie sehen, für die wahre Welt, für das wirkliche Sein. Dabei ist es die Welt des Scheins, die Menschen sehen nur die Projektion der Dinge, nicht aber die Dinge selbst und ihre Beschaffenheit. Es sind die Menschen ohne Erkenntnis, die einer Illusion aufsitzen, deren Art, Form und Perspektive ausschließlich von den Mächtigen, den Aktionskünstlern geschaffen wird.
Die Gefangenen kommen gar nicht auf die Idee, sich ihrer Fesseln zu entledigen – sie verharren im Gewohnten, denn die Gewohnheit bietet ihnen wenigstens Sicherheit. Gedanken über die Einschränkungen, welche die Fesselung mit sich bringt, werden verdrängt..
Befreiung, ja – die wäre vielleicht schon möglich, sie wird aber gescheut aus Angst vor dem Schmerz, den Erkenntnis und Veränderung mit sich brächten –,…. wären da nicht die „Verführer“– so werden sie von den Aktionskünstlern genannt.
Diese hatten den Schatten an der Wand misstraut, sie hinterfragt, ihre Fesseln abgelegt und den Aufstieg aus der Höhle heraus gewagt ans Sonnenlicht in die Welt des wirklichen Seins. Jetzt waren sie zurückgekehrt und hatten die Gefangenen aufgefordert, doch mit ihnen zu kommen, heraus aus der Höhle, der Welt des Scheins, um neue Blickwinkel und damit Erkenntnis in der wirklichen Welt zu erfahren – Platons „Verführer“ oder: die „Coachs“ von damals.
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Die Schlüsselkompetenz eines Coachs
Was passiert nun weiter?
Am Anfang steht die Aufforderung des „Coachs“ nach Bewegung, die Sichtweise zu ändern, mit nach „draußen“ zu kommen und sein Angebot, zu begleiten auf dem Weg ins Sonnenlicht – laut Platon Symbol des Guten und Wahren.
Das mag der „Gefangene“ ja noch annehmen, möglicherweise sogar begeistert. Was aber, wenn er nach dem Ablegen seiner Fesseln bei den ersten Schritten in Freiheit feststellt, dass jeder Schritt auf dem Weg nach „draußen“ sehr beschwerlich ist, dass alle Glieder schmerzen durch die ungewohnte Bewegung, dass er dazu noch Gefahr läuft, Gewohntes und damit liebgewonnene Sicherheiten zu verlieren?
Er wird zurückkehren wollen zu den Dingen, die er kennt, und er wird Ängste davor entwickeln, wie seine Umwelt – das sind die in der Höhle Zurückgebliebenen – wohl reagieren wird, wenn er zurückkehrt: Wird sein „Ausflug“ ohne Folgen bleiben oder erwartet ihn Ablehnung, Ächtung, Ausschluss gar aus der gewohnten Gemeinschaft?
Der „Gefangene“ wird sich auflehnen – gegen die „Gefahr“, gegen alles, was Veränderung bedeutet, auch gegen seinen „Coach“. Jeder Coach kennt diese Entwicklung im Laufe eines Veränderungsprozesses –, damals wie heute.
Eine solche Verunsicherung ist normal, sogar wünschenswert. Wäre der Klient nicht „geblendet“, erschrocken und verwirrt vom „gleißenden Sonnenlicht“, würde er sich nicht fragen, ob denn das Neue, das Ungewohnte überhaupt richtig für ihn sei, hieße dies, er ließe sich möglicherweise allzu schnell ohne jegliche eigene Erkenntnis ein auf Veränderungen, die nur in ihm selbst reifen können, um nicht schon im Ansatz zu scheitern. Unser Unbewusstes, in welchem sich alle Erfahrungen der Vergangenheit einen, greift ein – als Schutzfunktion, vorausgesetzt, dies wird als solche erkannt und genutzt und nicht als Bremse, was der Fall ist, wenn es um einschränkende Sichtweisen geht, die aus angstbesetzten Erfahrungen heraus sich bilden konnten.
An dieser Stelle zeigt sich, ob ein Coach selbst über genügend Lebensreife, professionelle Erfahrung und persönlichem Einfühlungsvermögen verfügt, um in dieser entscheidenden Zerreißprobe die auseinander strebenden Geister, Gefühle und Ängste, die Glaubenssätze seines Klienten zu ordnen, sie zueinander in Bezug zu setzen, um Einschränkungen der bisherigen Lebensweise greifbar zu machen und die „Unruhe“ seines Klienten zum Bild, damit Raum für einen Perspektivenwechsel und Auflösung entstehen kann.
Das Kernstück eines jeden Coaching-Prozesses verläuft in 4 Entwicklungsstufen:
- Stufe: Wahrnehmung der Einschränkung im bisherigen Lebenskontext;
Bei Platon: Situation der Gefesselten, unter denen der eine oder
andere unruhig wird;
- Stufe: Veränderte Perspektiven durch Hinterfragen des
Gewohnten, Aufarbeiten und Überschreiten (Transzendieren)
bisheriger Einschränkungen und Glaubenssätze hin zur
Idee, was sein könnte;
Bei Platon: Lösung der Fesseln, beginnender Aufstieg aus der Höhle heraus mit neuen
Eindrücken;
- Stufe: Neu-Orientierung durch Erkennen von Handlungs-
und Verhaltensoptionen; Erkennen der Notwendigkeit von Selbstüberwindung soll
Selbstwirksamkeit erreicht werden;
Bei Platon: Letzter Teil des Aufstiegs aus der Höhle hinaus in die Sonne, Erkenntnis der
wirklichen Welt;
- Stufe: Transfer der Erkenntnis in die bisherigen Lebensumstände
Bei Platon: Rückkehr in die Höhle und Botschaft an die Gefesselten.
„Siebenmeilen-Stiefel“ bei der Bewältigung des persönlichen Entwicklungsweges wären unsinnig, weil das Gefühl für die eigene Selbstwirksamkeit erst gar keine Chance bekäme, sich zu entwickeln. Ebenso unsinnig wäre das Bemühen, Erkenntnis als „endgültig“ begreifen zu wollen oder aber nicht mehr zurückzukehren „in die Höhle“, denn das bedeutete, den Transfer der Erkenntnis in die bisherigen Lebensumstände zu verhindern und damit einen langfristigen Nutzen.
Der wichtigste Schritt des gesamten Coaching Prozesses aber erfolgt in Stufe 2 in dem Moment, wo der Klient selbst den Richtungswechsel initiiert und damit begreift, dass er sich „umwenden“ kann und vor allem darf.
Ein Coach, der diesen Impuls zu setzen vermag, verfügt über die absolut zentrale Schlüsselkompetenz.
E. Ganzheitlich-integrative Persönlichkeitsentwicklung des Coachs
Bei aller Methoden-, Fach- und Feldkompetenz, über die ein Coach natürlich verfügen soll:
Coaching gelingt nur dann wirklich, wenn der Coach selbst nach einer ganzheitlichen Entwicklung strebt im Umgang mit sich und seinen Gefühlen und dabei akzeptiert, dass Erkenntnis nie endgültig sein kann. So, wie sich ja auch Farben und Formen durch Bewegung in nur einem Augenblick verändern können, so verhält es sich mit Erkenntnis und – als deren Abbild – mit der eigenen Entwicklung.
Nietzsche bemerkt dazu:
«So ergibt sich als zwangsläufiges Gesetz, dass durch die immer weiter fortschreitende Ausweitung des Bewusstseins der Menschheit jede Theorie früher oder später überwachsen wird und neuen Erkenntnissen Platz machen muss.»
Darunter werden Erkenntnisse sein, die unserem Wesen nicht entsprechen, mit denen wir nichts anzufangen wissen, die uns vielleicht sogar beunruhigen. Schaffen wir es, sie trotzdem in unser Welt- und Menschenbild zu integrieren, weil wir erkennen, dass andere Sichtweisen unsere eigene Beschränktheit erweitern, dann haben wir begriffen, wie sich uns „Anderes“ leichter erschließt – auch in uns selbst.
„Staunen-Können“, das lebendige Interesse an der Andersartigkeit, ist die Flamme einer jeden echten Begegnung und der persönlichen Entwicklung sowieso.
Der Staunende möchte das „Geheimnis“ entdecken – wie einst auf dem Dachboden als Kind – die alte Truhe. Da konnte man probieren und studieren, phantasieren, gucken wie’s gefällt und – keiner hat’s gemerkt, Gott sei Dank, denn dann wäre der Spaß vorbei gewesen, viel zu staubig da oben und überhaupt „sind denn die Schulaufgaben schon gemacht“?
Erkenntnis fragt nicht nach stereotyper Pflichterfüllung; sie braucht Zeit, Phantasie, Gefühl, Unordnung(!), damit wir – Schöpfer des „einen“ Augenblicks – uns als solcher fühlen können und unsere Vorstellungskraft Gelegenheit findet, Fragmente der Wirklichkeit zu erkennen.
Erkenntnis braucht gleichermaßen Spiel und Ernst für ihre Grunddisziplin: Das Staunen-Können über die Dinge, das Erfassen des Wesentlichen als Momentaufnahme im ganzheitlichen Zusammenspiel von Verstand, Intuition und Emotion.
Die eigenen Lehr- und Wanderjahre werden einem Coach zeigen, dass er sich langsam ans „Sonnenlicht“ zu gewöhnen hat, weil Erkenntnis ein Prozess ist, der irritiert, der den allzu komfortablen Zustand der Unwissenheit ein für alle Mal beendet, was einem „Rauswurf“ gleichkommt, … aus dem „Paradies“ der Illusion, hinein in die Welt der Suchenden …, dass Freiheit bedeutet, all’ die gewohnten Konstrukte zu verbannen, das Wahre zu sehen und im Wahren das Ganze.
Er wird die Begrenztheit seiner eigenen Wirkung begreifen, und er wird verstehen, dass ein Mensch nie vollständig erfasst werden kann, auch vom „Meister“ nicht – ein Teil bleibt immer fremd, sogar uns selbst – das „Nichtgreifbare“ als Impuls für Spannung, Neugier, für die ständige Weiterentwicklung des Menschen.
Für die Arbeit eines Coachs kann es demnach kein geschlossenes Welt- und Menschenbild geben, zu stark sind die Einflüsse durch Aufklärung und eine internationalisierte Weltengemeinschaft.
Bei aller kritischen Distanz stellt jedoch der Humanismus in Gestalt der Aufklärung Antworten bereit, die für die Coaching-Praxis von relevanter Bedeutung sind.
F. Bedeutung des Humanismus als Grundlage für Annahmen im Coaching
«Darf sich der Mensch denn überhaupt als höchsten Wertbegriff der Schöpfung erklären, als Maß aller Dinge?» – so kritische Stimmen, wenn es um humanistische Wertvorstellungen geht.
Dies vorangestellt sowie unsere Auffassung, dass eine Annäherung an das humanistische Prinzip uns unter allen Optionen am ehesten möglich erscheint, wollen wir in den nachfolgenden Abschnitten die grundlegenden Werte des Humanismus zur Coaching-Praxis in Bezug setzen.
Auf die Frage des Menschen nach sich selbst, hat die humanistische Bewegung seit ihren Anfängen vor über 2500 Jahren als maßgeblich prägende, emanzipatorisch wirkende Strömung das menschliche Wertesystem unumkehrbar beeinflusst – in den Bereichen der Rechtsstaatlichkeit, Glaubensfreiheit und der Menschenrechte hat sie Entwicklungsgeschichte geschrieben.
Humanismus erhebt den Menschen als bildungsfähiges, sich selbst und seine Umwelt ständig neu entwerfendes Individuum zum höchsten Wertbegriff, an dem sich alles zu orientieren hat. Als logische Konsequenz seiner Position fordert der Humanismus vom Menschen die Übernahme adäquater Verantwortung im Sinne sorgender, gestaltender und erhaltender Handlungen und Dienste gegenüber der Gesellschaft, der Natur und sich selbst. Das sich hieraus ergebende Gefälle von „Macht und Unterjochung“ ist ein „Führungsmodell“, das den Menschen als Erkennenden, Verantwortlichen und damit „Weisungsbefugten“ zwangsläufig ins Zentrum des Geschehens stellt und sein Selbstverständnis als höchsten Wertbegriff der Schöpfung erklärt.
Nach unserer Auffassung verkörpert die humanistische Betrachtungsweise ein in ihren Grundzügen ganzheitlich-integratives, sinnvermittelndes Welt- und Menschenbild, aus dem heraus der Mensch zur Selbstliebe angehalten wird, dem Ursprung aller Kreativität und Mündigkeit. Um es mit den Worten eines Emanuel Kant zu sagen:
«Humanismus weist den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit heraus».
Humanismus kann moderner denn je interpretiert werden in einer Zeit, die den Wandel vom Wissensarbeiter zum Kreativarbeiter schaffen muss. Seine Grundannahmen sind verbunden mit den Attributen Einzigartigkeit, Kreativität und Empathie, die wiederum heute als Schlüsselkompetenzen in einer Arbeitswelt gelten, in der Fachwissen nur noch die zweitwichtigste Bedeutung einnimmt.
Der von Carl Rogers unter humanistischen Annahmen entwickelte klientenzentrierte Gesprächsansatz und seine Anwendung in der Coaching-Praxis erklärt das intuitive Erkennen unter Einschluss der emotionalen Ebene zur Voraussetzung für ganzheitliches Verstehen – gleichberechtigt neben der Logik. Unserer Ansicht eine Grundlage, auf der sich die Arbeit eines Coachs wirkungsvoll entfalten kann.
Der Mensch in seiner Welt lässt unendlich viele Interpretationen zu – ein bestimmtes Menschenbild kann daher immer nur richtungsweisend sein und liegt wohl auch im Auge des Betrachters. So, wie Diamanten ihr Feuer erst durch den Schliff erhalten, so gilt analog für die Persönlichkeitsentwicklung, diejenigen Seiten zu fördern, die Ressourcen darstellen und bedeutend sind für Aufarbeitung und Identifikation von Zukunftspotentialen.
Das Interesse, philosophisches Gedankengut für die Coaching-Praxis verfügbar zu machen und damit humanistisch geprägte Annahmen, hat seine Berechtigung vor allem auch deswegen, weil das im Humanismus vertretene Welt- und Menschenbild eben kein geschlossener Kreislauf ist, sondern viel eher zu Weiterentwicklung und Integration neuer Erkenntnisse einlädt.
Was integriert wird, welche Ebenen und Dimensionen für den Einzelnen im Laufe seiner eigenen Entwicklung Bedeutung erlangen, entscheidet ausschließlich die eigene Erfahrung. In ihr unterscheiden wir uns voneinander, sie lehrt uns Toleranz, sie macht uns unverwechselbar.
Ein Coach, der auf den Grundlagen des Humanismus arbeitet, bleibt neugierig – aufs Leben. Er wird wachsen wollen – an anderen und an sich selbst. Vor allem aber weiß er, dass er sich authentisch zeigen muss, um das zu bewirken, was gemeint ist, wenn man von „Wachstum“ in der Persönlichkeitsentwicklung spricht, denn damit sind beide gemeint – Klient wie Coach.
Jedes Menschenbild leitet. Die besondere Natur der Beziehung zu seinen Klienten misst dem persönlichen Menschenbild eines Coachs aber eine außergewöhnliche Bedeutung bei. Mehr als in den meisten anderen, beruflich bedingten Interaktionen steht es für die Unverwechselbarkeit der persönlichen Begegnung und ihren emotionalen Ausdruck. Ein verinnerlichtes Menschenbild als Dienst an der kulturellen Reifung kann Räume füllen und dem Coach helfen bei der Suche. Und das ist seine Aufgabe.
«Empty spaces – what are we living for
Abandoned places – I guess we know the score
on and on, does anybody know what we are looking for… […..]»
“Innuendo”, Freddy Mercury 1991
Literaturhinweise:
Goethe, Johann Wolfgang von – Faust: Der Tragödie erster und zweiter Teil, Urfaust, Beck Verlag
Heidegger, Martin, Vom Wesen der Wahrheit: Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet. WS 1931-32, Klostermann Verlag
Heidegger, Martin, Über den Humanismus, Klostermann Verlag
Juchniewicz, B. Ulkan, A. (2008): Wie man wird, was man ist – Chancen, 55. ECA Fachartikel
Juchniewicz, B. Ulkan, A. (2008): Vielfalt und Wettbewerb im professionellen Coaching
Juchniewicz, B. Ulkan, A. (2007): Kollektive Intelligenz – 50. ECA Fachartikel
Juchniewicz, B. Ulkan, A. (2007): Unternehmen Liebe – 49. ECA Fachartikel
Juchniewicz, B., (2007): Der professionelle Coach, Berufsgrundsätze, 43. ECA Fachartikel
Juchniewicz, B., u.a. (2007): Das Ende der Psychopathologisierung, 44. ECA Fachartikel
Juchniewicz, B. u.a. (2007): Sobbing, Schicksal oder Chance, 45. ECA Fachartikel
Juchniewicz, B., Ulkan, u.a. (2007): Bewährungsprobe Krise, 46. ECA Fachartikel
Juchniewicz, B., Ulkan, A., u.a. (2007) Vertrauen – Integrität – Augenhöhe im Management Coaching, 47. ECA Fachartikel
Juchniewicz, B., Ulkan, u.a. (2007) Professionelles Team-Coaching in Ihrem Unternehmen, 48. ECA Fachartikel
Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Meiner Verlag
Rousseau, Jean-Jacques, Emil oder Über die Erziehung, UTB Verlagsgemeinschaft
Weinberger, Sabine, Klientenzentrierte Gesprächsführung, Juventa Verlag
Wikipedia
Dieser Artikel wurde erstmals im Jahr 2008 als ECA Fachartikel auf www.european-coaching-association.com publiziert
Die Autoren:
Bernhard Juchniewicz – ECA Chairman – President – European Coaching Association: Bernhard Juchniewicz ist multidisziplinär ausgebildet und arbeitet seit 1976 mit Menschen in besonders belasteten Arbeits- und Lebenssituationen. Als Management Lehr-Coach und Gesundheits-Coach, Partner- & Sexuality Fach-Coach berät und coacht er Unternehmer, Führungskräfte und ihre Teams, insbesondere in den Bereichen Selbst- & Beziehungs-Management sowie Zeit- & Ziel- sowie Visions-Management, Team Leading, integeres Corporate Identity, Burnout- und Workaholic-Prävention, souveräne Krisen-Intervention, Mitwachstum von Partnern, Lebens- und Karriereplanung, Umgang mit persönlichen und beruflichen Krisen, Work / Privat Life Balance, Regeneration und Psychohygiene von Führungskräften und ihren Lebenspartnern. www.academy-eca-sozietaet.com; www.work-love-balance.com
Angelica Ulkan vereint einen betriebswirtschaftlich-sprachwissenschaftlichen Ausbildungs- und Erfahrungshintergrund auf internationaler Ebene mit psychologischem Wissen. Sie kennt die psychischen und physischen Anforderungen und Erwartungen, die an Unternehmer und Management gestellt werden, aus eigener jahrelanger Erfahrung im Executive Management. Ihre Tätigkeit als Coach wird davon entscheidend beeinflusst – ihre Arbeit steht für substanzielle Wege in der Persönlichkeits- und Unternehmensentwicklung sowie Gesundheitsvorsorge einschließlich Burnout Prävention und -Intervention. Auf der Grundlage einer ganzheitlich-integrativ orientierten Denkweise mit klarem Blick auf realistische Ziele berät und coacht sie als einfühlsame, lebenserfahrene Sparrings- und Reflektionspartnerin ihre KlientInnen, insbesondere im Executive Management Coaching, in Team-Coachings und in der Führungskräfte Entwicklung, in Burnout- & Workaholic Prävention und -Intervention, in Potential-/ Persönlichkeitsentwicklung, Self-Marketing und Sinnfindung sowie in den Bereichen Partner Coaching, Konflikt Coaching und Krisenintervention. www.ccs-consulting-coaching.de
Frank Niessing steht für die Integration von persönlichen und beruflichen Entwicklungsprozessen. Das ganzheitlich integrative Coaching von Frank Niessing zielt im privaten wie im beruflichen Umfeld auf die Einbindung persönlicher Werte und Motive in ein ganzheitliches Erleben. Auf der Basis eines psychologisch-philosophischen Studiums und langjährigen Praxiserfahrung coacht und berät er Einzelpersonen sowie Management- und Vertriebs-Teams, um die vorhandenen Ressourcen und Synergien bei Change-Prozessen, aber auch in Konflikt- und Krisensituationen auf verbindliche gemeinsame Ziele neu auszurichten.